Zusammenfassung

Wissenschaftlich wie gesellschaftlich erfährt das Thema Stadt anhaltend Konjunktur, zumal Stadtleben die dominante Lebensrealität der Gegenwart darstellt. Die Forschung trägt diesem Umstand interdisziplinär durch eine große Aufmerksamkeit für urbane Lebensformen und Umwelten Rechnung. Bei genauerem Blick sind es allerdings nur bestimmte Städte, die bevorzugt im Fokus von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik stehen und als paradigmatische Beispiele urbanen Lebens fungieren: Das Bild von Stadt beziehungsweise der Begriff der Urbanität rekurriert vor allem auf großstädtische und metropolitane Lebensrealitäten einer vermeintlich westlichen Moderne, auf große Städte der nördlichen Hemisphäre. Kleinere Städte kommen demgegenüber weniger und schon gar nicht als Beispiele für städtisches Leben oder Urbanität in den Sinn.

In den letzten Jahren ist Bewegung in dieses Missverhältnis wissenschaftlicher Aufmerksamkeit für städtische Lebensrealitäten gekommen. Das Forschungsprojekt „Mittelstädtische Urbanitäten. Ethnographische Stadtforschung in Wels und Hildesheim“ am Institut für Europäische Ethnologie der Universität Wien adressiert diese Schieflage und bietet exemplarische Einblicke in städtisches Leben in zwei nicht-metropolitanen Städten.

Konkret ging es in unserem Forschungsprojekt, gefördert vom FWF, um westeuropäische Städte, die weder Groß- noch Kleinstädte sind, sondern welche die Verwaltung in einer eigenen Kategorie aufführt und sie als Mittelstädte oder -zentren fasst. Wir – Brigitta Schmidt-Lauber als Projektleiterin zusammen mit Georg Wolfmayr und Anna Eckert – haben hierzu von 2011 bis 2016 die niedersächsische Stadt Hildesheim und die Stadt Wels in Oberösterreich untersucht. Die Ergebnisse des Forschungsprojektes wurden unter anderem in den angegebenen Publikationen und Konferenzen veröffentlicht

 

Begriffliches

Es besteht in der interdisziplinären Stadtforschung nach wie vor Unklarheit, was als „Mittelstadt“ gelten soll und was diese ausmacht und längst nicht überall gibt es überhaupt einen gemeinsamen Begriff für mittelgroße Städte. Häufigster Ausgangspunkt sind die numerischen Definitionen der deutschen Reichsstatistik von 1871, die von der Statistikerkonferenz 1887 festgeschrieben wurden und bis heute etwa in der deutschen Verwaltung als Grundlage dienen. Danach sind Städte mit einer Einwohnerzahl zwischen 20.000 und 100.000 Mittelstädte, ab 100.000 EinwohnerInnen gelten Städte als Großstädte. Diese Kennzeichnung ist heute kaum mehr angemessen und wird aufgrund der Transformationen gesellschaftlichen Lebens und urbaner Welten seit dem 19. Jahrhundert auch zunehmend kritisiert. In der Raumforschung wurde deshalb eine neue und inzwischen häufig genutzte Einteilung entwickelt, die Städte mit EinwohnerInnenzahlen zwischen 50.000 bis 250.000 als Mittelstädte definiert. Neben numerischen werden auch andere Kriterien zur Definition von Mittelstädten herangezogen wie etwa die administrative Stellung und Funktion einer Stadt als Mittel- oder Oberzentrum. Auch wenn es heute somit verschiedene Definitionen von Mittelstädten gibt, bildet meist ein statistischer Begriff den Ausgangspunkt.

Allerdings bleiben diese Einordnungen meist ungenau und sind in vielerlei Hinsicht wenig aussagekräftig. Die Kontextlosigkeit der statistischen Definition lässt übersehen, dass auch Städte von unterschiedlicher Größe gemeinsame Charakteristika aufweisen können. Ebenso können Städte mit ähnlichen Einwohnerzahlen – auch innerhalb Europas – sehr unterschiedliche Bedeutungen und Lebensbedingungen aufweisen (so ist der statistische Wert für eine Einstufung als Stadt und die damit verbundene funktionale Stellung in den südeuropäischen Ländern deutlich höher als in den skandinavischen Ländern). Die Relativität der numerischen Definition von Städten steht heute zumal im internationalen Vergleich außer Zweifel. Und auch historisch ist zu spezifizieren, was für die jeweilige Zeit als Mittelstadt gelten kann.

Die genannten Kennzeichen einer „Mittelstadt“ sagen zudem wenig über die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung und kaum etwas über Alltagspraxen, Erfahrungsmodi und Imaginationen aus. Sie übersehen, dass Städte wie auch ihre kennzeichnenden Kategorisierungen einem Prozess der Produktion unterliegen und darin an den jeweiligen Kontext gebunden sind. Im Forschungsprojekt soll mit den Zugängen der Europäischen Ethnologie in Ergänzung zu „harten“ statistischen oder formalen Definitionen eine solche prozessual, qualitativ und lebensweltlich-ethnographisch ausgerichtete Bestimmung geleistet werden. Gegenstand sind die alltäglichen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Handlungen der unterschiedlichen AkteurInnen, die in Zusammenhang mit den (jeweiligen) Lebensbedingungen der Mittelstadt stehen und durch die „Mittelstadt“ laufend ausgehandelt und produziert wird. Einer solchen praxeologischen Perspektive folgend, wird „(Mittel)Stadt“ nicht vorab definiert, sondern im Sinne eines „doing city“ empirisch untersucht